Von FOMO zu JOMO: Die stille Rebellion der Seele
FOMO – Fear of Missing Out – ist die unterschwellige Religion einer ganzen Generation. Sie glaubt an die Gnade des Immer-Online-Seins, bekennt sich zur Allgegenwart der Gruppen-Notifications und feiert ihr Hochamt in durchgetakteten Wochenenden. Ihr Credo lautet: Du darfst nichts verpassen – sonst verpasst du dich selbst. Und so hetzen wir von Verabredung zu Verabredung, posten ein Lächeln und fragen uns heimlich: Wann hört das eigentlich mal auf?
Unser Kalender ist kein Werkzeug der Freiheit mehr, sondern eine To-Do-Litanei. Wir sagen ja, weil wir es nicht übers Herz bringen, nein zu sagen – und bringen dafür unser Herz unter die Räder. Unser Alltag ähnelt einem überfüllten Buffet: Alles sieht gut aus, wir greifen zu, auch wenn der Magen längst rebelliert. Hauptsache, nichts wird ausgelassen. Hauptsache, keiner ist enttäuscht.
Doch was, wenn genau darin das eigentliche Verpassen liegt? Was, wenn das revolutionärste Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts JOMO ist – Joy of Missing Out? Die stille Freude, nicht überall dabei sein zu müssen. Die selige Entlastung, in Ruhe zu verpassen, was man eh nicht braucht. Die Freude, endlich wieder bei sich selbst anzukommen.
Vielleicht ist das mutigste Wort unserer Zeit ein kleines, klares, freies: Nein.
Das Evangelium des vollen Terminkalenders
Man könnte von einer kollektiven Betriebsstörung unserer Zeit sprechen, die nicht an mangelnder Zeit, sondern an gestörter Priorität leidet. Wir leben in einer Welt, die Geschwindigkeit mit Bedeutung verwechselt. „Schnell“ heißt „wichtig“, „verfügbar“ heißt „geliebt“, „immer erreichbar“ heißt „anerkannt“. Doch unsere Seele funktioniert anders. Sie ist nicht WLAN-kompatibel. Sie braucht Stille, Tiefe, Resonanz – keine Push-Benachrichtigungen.
Stumpfe Rastlosigkeit strapaziert nicht nur unser Nervenkostüm, sondern sie höhlt unser geistliches Leben aus. Wer nie zur Ruhe kommt, hört keine Stimme mehr – auch nicht Gottes Stimme. Die Überreizung des Außen betäubt das Innen. Die Folge? Eine spirituelle Verstopfung: Wir konsumieren permanent Inhalte, aber verdauen sie nicht mehr. Wir leben auf der Oberfläche und beten aus Gewohnheit. Wir hören viel, aber hören nie hin.
„Jesus hatte nie Eile – und war doch nie zu spät.“ Diese einfache Wahrheit entlarvt unsere Betriebsamkeit. Christus lebte aus einem Rhythmus, der tiefer reicht als die Algorithmen, die unser Leben bestimmen: Gebet vor Aktion, Rückzug vor Wunder, Stille vor Verkündigung. Seine Langsamkeit war kein Mangel an Organisation – sie war Ausdruck göttlicher Klarheit.
Und wir? Wir füllen unsere Wochen mit Projekten, Verabredungen, Ehrenamt und digitalem Dauerfeuer. Nicht, weil alles davon wichtig ist. Sondern weil wir Angst haben, Nein zu sagen. Angst, etwas zu verpassen. Oder schlimmer: jemanden zu enttäuschen. Doch jeder Ja-Sager wird irgendwann zum Nein-Fühler. Denn jedes unehrliche Ja ist ein leises Nein zu dem, was eigentlich zählt.
Warum wir keine Grenzen setzen
Manchmal ist unser Ja gar nicht frei gesprochen, sondern ein kindlicher Reflex. Tief in uns sitzt ein verletztes Ich, das sich Liebe, Zugehörigkeit und Sicherheit durch Anpassung erkauft hat. Dieses innere Kind glaubt bis heute: Wenn ich Nein sage, werde ich nicht mehr gemocht. Es hat gelernt, sich selbst zurückzustellen – um nicht verlassen zu werden. Um nicht als egoistisch, schwierig oder undankbar zu gelten.
Werfen wir einen Blick auf die psychologischen Altlasten, die uns davon abhalten, gesunde Grenzen zu ziehen und legen wir die tieferliegende emotionale Programmierung frei, die auf drei tragischen Irrtümern beruht:
- Falsche Schuldgefühle – Wir verwechseln Grenzen mit Lieblosigkeit. Doch Liebe ohne Grenze ist kein Geschenk, sondern eine Erpressung.
- Angst vor Ablehnung – Wer sein Ja aus Angst vor Verlust von Zugehörigkeit und Freundschaft gibt, glaubt: „Ich bin nur dann liebenswert, wenn ich mich aufopfere.“
- Verwechslung von Liebe und nett sein – Viele glauben, ein guter Mensch müsse immer nett sein. Doch Jesus war nicht nett. Seine Liebe war authentisch.
Daraus folgen verkorkste Glaubenssätze: „Ich bin egoistisch, wenn ich Nein sage.“ Oder: „Ich bin nur dann wertvoll, wenn ich gebraucht werde.“ Diese inneren Mantren haben uns vielleicht einmal in einer schmerzlichen Situation als Schutzschild gedient. Dauerhaft machen sie uns jedoch unfrei.
Was daraus entsteht, sind klassische Kompensationsmechanismen: Wir überarbeiten uns, um Anerkennung zu verdienen. Wir sagen Ja, obwohl wir innerlich ausbrennen. Wir verwechseln unseren Terminkalender mit unserem Selbstwert. Und irgendwann glauben wir tatsächlich, dass unser Mangel an Grenzen ein Beweis für Stärke sei.
Unsere Heilung beginnt genau hier: indem wir diese Muster erkennen und konfrontieren und unser inneres Kind an die Hand nehmen – nicht, um es zu belehren, sondern um es neu zu erziehen und zu lehren: „Ich bin nicht geliebt, weil ich funktioniere. Ich funktioniere, weil ich geliebt bin.“
Grenzen machen uns nicht hart, sondern tief. Grenzen setzen heißt: Ich bin mir selbst etwas wert. Es ist die Entscheidung meine Würde nicht zur Disposition zu stellen – auch nicht für Applaus, Harmonie oder scheinbare Zugehörigkeit.
Gott sagt Nein
Schon auf der ersten Seite der Bibel setzt Gott Grenzen – nicht aus Angst, sondern um Ordnung herzustellen. Der Schöpfer trennt, gliedert, begrenzt – nicht, weil ihn Chaos stört, sondern weil Liebe Raum braucht, um konkret zu werden. Das Nein Gottes ist nie kalt, sondern es ist beschützend. Es ist kein Stoppschild, sondern ein Raum für mehr Liebe.
Jesus selbst, der fleischgewordene Sohn des Vaters, lebt diese Grenzsetzung in vollkommener Weise. Er sagt Nein – und das nicht nur einmal:
- In der Wüste sagt er Nein zu Versuchung und Manipulation, obwohl der Versucher mit biblisch-exegetischer Gelehrtheit auftrumpft.
- Nach einem Tag voller Heilungen zieht er sich in die Einsamkeit zurück – obwohl „alle ihn suchten“ (Mk 1,37).
- Und als Petrus ihn emotional von seinem Leidensweg abhalten will, spricht Jesus eines der schärfsten Neins der Schrift: „Weiche von mir, Satan!“ (Mt 16,23)
Das ist nicht Hartherzigkeit. Das ist Klarheit. Jesu Nein entspringt keinem Trotz, sondern seiner Berufung. Er verweigert sich nicht dem Nächsten – er verweigert sich der Ablenkung vom Wesentlichen.
Der Preis des Ja-Sagens
Der Mensch ist ein endliches Wesen mit einem unendlichen Sehnsuchtsherzen. Und genau deshalb braucht er Grenzen. Unsere Angst etwas zu verpassen, gaukelt uns vor, dass noch ein weiteres Ja hineinpasst – aber unsere Seele weiß es besser. Denn jeder Ja-Sager wird irgendwann zum Nein-Fühler: ausgelaugt, überfordert, überfrachtet.
Nur Gott ist grenzenlos. Der Mensch hingegen ist geschaffen mit Anfang und Ende, aus Fleisch und Blut, mit Hunger und Schlafbedürfnis. Und das ist gut so. Die Begrenztheit des Menschen ist kein Betriebsunfall der Schöpfung, sondern Teil ihres heiligen Bauplans. In der Endlichkeit wird Beziehung möglich. In der Begrenzung entfaltet sich Tiefe. Ohne Grenze kein Ich. Ohne Nein kein echtes Ja. Denn jedes Nein das wir sprechen beinhaltet ein wertschätzendes Ja zu dem, was uns wirklich wichtig ist.
Wer das erkennt, wird sich nicht mehr für jedes Ja aufreiben. Er wird prüfen, wofür er geschaffen ist – und was einfach zu viel ist. Denn es ehrt Gott nicht, wenn wir ausbrennen. Es ehrt ihn, wenn wir brennen – für das Richtige.
Drei Übungen, um Nein-Sagen einzuüben
Nein-Sagen ist keine Charaktersache, sondern eine Übung. Und wie jedes geistliche Muskeltraining braucht es Wiederholung, Geduld – und ein bisschen Humor. Hier drei einfache, aber kraftvolle Übungen für deinen Alltag:
- Offline-Oase
Stelle dich fünf Minuten lang unter den Blick des Himmlischen Vaters: Stell dir vor, wie Gott dich liebevoll ansieht. Frag ihn: „Was willst du heute nicht von mir?“ Du wirst überrascht sein, was du alles getrost lassen darfst. - Grenzanalyse mit Herz
Nimm dir ein Blatt Papier. Schreib drei Situationen auf, in denen du kürzlich Ja gesagt hast, obwohl du innerlich Nein meintest. Was hast du dabei gefühlt? Wovor hattest du Angst? Und was hättest du gebraucht, um frei zu entscheiden - Digital Detox
Setz dir einen Timer: Eine Stunde pro Woche offline – kein Scrollen, kein Reagieren, kein Multitasking. Geh spazieren. Trink Kaffee. Gähn in die Sonne. Hör der Stille zu. Du wirst merken: Das Universum dreht sich auch ohne dich weiter. Und genieße „the joy of missing out“, die Freude etwas genüsslich zu verpassen
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P. Georg Rota LC lebt im Zentrum Johannes Paul II. der Legionäre Christi in Wien und leitet dort das Pastoralteam. Sein Beitrag ist in der Ausgabe 2/2025 (Mai) des You! – Magazin erschienen.