Donnerstag, 21. April 2016

Was hat der Papst gesagt?

Eine Einstiegshilfe von P. Jesus Villagrasa LC zur Lektüre von „Amoris laetitia“ von Papst Franziskus.

Es ist so weit. Papst Franziskus hat uns das Postsynodale Apostolische Schreiben „Amoris laetitia – Über die Liebe in der Familie“, in dem die Ergebnisse der Synoden von 2014 und 2015 zusammengefasst sind, ausgehändigt.

Ein Cartoon von Chiri, der in der spanischen Wochenzeitschrift „Alfa y Omega“ erschienen ist, erweist sich als ein getreues Abbild der Realität: Ein Herr sagt: „Seht Ihr? Der Papst gibt uns Recht!” – „Gar nicht wahr! Er bestätigt unsere Position!“ – erwidert der Gesprächspartner. „Aber der Papst hat doch noch gar nichts gesagt!“ – wirft ein Prälat aus dem Vatikan verblüfft ein. „Das ist egal… wir trainieren hier!“ – tönt es zurück. Tatsächlich scheinen die Debatten und Diskussionen in der Presse nichts damit zu tun zu haben, ob der Papst etwas gesagt hat oder nicht. Deshalb ist es in diesem Augenblick vielleicht am wichtigsten, uns auf eine aufmerksame Lektüre dieses Schreibens einzustimmen und vorzubereiten, ehe wir uns anschicken, seinen Inhalt zu kommentieren… Tatsächlich gibt uns Papst Franziskus hierzu in den ersten sieben Abschnitten von „Amoris laetitia“ (AL) einige Hinweise.

Die Absicht des Autors… Ehe man ein Urteil über den Inhalt eines Textes abgibt, versucht man als Leser und Ausleger zunächst die Absicht seines Autors zu erkennen und zu respektieren. In unserem Fall wird diese Absicht ausdrücklich erwähnt: Der Papst möchte keine Stellungnahme zu Fragen abgeben, die von Theologen diskutiert werden: „nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen müssen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden“ (vgl. AL 3). Wohl möchte er aber die in der Pastoral Tätigen und die Gläubigen vor inakzeptablen extremen Positionen bewahren, so zum Beispiel vor „einem ungezügelten Verlangen, ohne ausreichende Reflexion oder Begründung alles zu verändern“ sowie vor „der Einstellung, alles durch die Anwendung genereller Regelungen oder durch die Herleitung übertriebener Schlussfolgerungen aus einigen theologischen Überlegungen lösen zu wollen“ (AL 2). Wer sich also hinter einer dieser beiden Sichtweisen verschanzt und ausgehend von dort in dem Schreiben nach Sätzen sucht, die er seinem Gegner als Wurfgeschosse entgegenschleudern kann, der liest den Text verkehrt. Hans Urs von Balthasar hat schon einmal bei passender Gelegenheit gesagt, dass einige Theologen aus dem Evangelium einen Steinbruch zur Gewinnung von Material gemacht haben, das man bei theologischen Diskussionen aufeinander werfen kann. Wenn das aber schon beim Evangelium der Fall ist… Papst Franziskus wollte die „Beiträge der beiden jüngsten Synoden über die Familie“ sammeln, „und weitere Erwägungen hinzuzufügen, die die Überlegung, den Dialog oder die pastorale Praxis orientieren können und zugleich den Familien in ihrem Einsatz und ihren Schwierigkeiten Ermutigung und Anregung bieten“ (AL 4). Der Leser sollte also weder die Standpunkte von Theologen noch von Vertretern pastoraler Lösungen vor Augen haben, sondern vielmehr die Ehepaare und das Leben jener Familien, die sich darum bemühen, innerhalb eines schwierigen und komplexen gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexts ihre Berufung zu leben.

… und der Aufbau des Textes: Die Kommentatoren aus dem Mittelalter, die sich mit antiken Texte befassten, pflegten ihrem Kommentar eine Gliederung vorauszuschicken, die der kommentierte Text normalerweise nicht enthielt und ihn so in Teile und Abschnitte zu unterteilen. Das war der sicherste Weg, um die Absicht des Autors zu erfassen. Und es setzte eine tiefe Kenntnis des gesamten Textes voraus. Der Papst erspart uns diese Mühe und warnt uns zugleich vor der ‚allgemeinen Versuchung‘, direkt zu den pastoralen Leitlinien überzugehen, die Licht auf die Entscheidungen werfen, die in sehr komplexen und problematischen Situationen zu fällen sind – was vielleicht gerade das ist, was die Kommunikationsmittel, viele Menschen, Familien und Priester am meisten interessiert. Ehe man zu diesen Themen (die in Kapitel 8 behandelt werden) vorstößt, muss ein Weg zurückgelegt werden, der mehrere Etappen (Kapitel) mit sehr genauer Zielsetzung umfasst, was der Papst unter Nr. 6 erklärt: „Beim Aufbau des Textes werde ich mit einer von der Heiligen Schrift inspirierten Eröffnung beginnen, die ihm eine angemessene Einstimmung verleiht [Kap. 1]. Von da ausgehend werde ich die aktuelle Situation der Familien betrachten, um ‚Bodenhaftung‘ zu bewahren [Kap. 2]. Danach werde ich an einige Grundfragen der Lehre der Kirche über Ehe und Familie erinnern [Kap. 3], um so zu den beiden zentralen Kapiteln zu führen, die der Liebe gewidmet sind [Kap. 5-6]. In der Folge werde ich einige pastorale Wege vorzeichnen, die uns Orientierung geben sollen, um stabile und fruchtbare Familien nach Gottes Plan aufzubauen [Kap. 6]; in einem weiteren Kapitel werde ich mich mit der Erziehung der Kinder beschäftigen [Kap. 7]. Danach geht es mir darum, zur Barmherzigkeit und zur pastoralen Unterscheidung einzuladen angesichts von Situationen, die nicht gänzlich dem entsprechen, was der Herr uns aufträgt [Kap. 8], und zum Schluss werde ich kurze Leitlinien für eine Spiritualität der Familie entwerfen [Kap. 9]“.

Wie sollte man das Apostolische Schreiben lesen? „Ich empfehle nicht, es hastig ganz durchzulesen“ (vgl. AL 7). Das versucht derjenige zu tun, der den Text auf der Suche nach Neuerungen überfliegt. Wir Gläubige stehen vor dem, was eine breit angelegte und reichhaltige Reflexion, die von zwei Synoden durchgeführt und dem Urteil des Heiligen Vaters unterbreitet worden ist, hervorgebracht hat: einem ausgereiften Ergebnis. Unsere Wertschätzung für diesen päpstlichen Text bringen wir theoretisch und praktisch dadurch zum Ausdruck, dass wir folgende Ratschläge beachten: Erstens, indem wir „Abschnitt für Abschnitt geduldig vertiefen“ (AL 7), den Text in Ruhe studieren und vertieft darüber nachdenken. Zweitens, indem wir ihn zu einem Lebensbegleiter (Vademekum) machen und jeder „nach dem sucht, was er in der jeweiligen konkreten Situation braucht“ (vgl. AL 7).

Kontinuität. Wie das schon bei den Konzilstexten der Fall war, gibt es vielleicht Stimmen, die behaupten, der Text sei nicht im Geist von demnach „fortschrittlicheren“ Synoden geschrieben worden, oder er stehe nicht treu zur Tradition… Dank der Erfahrung vergangener Jahre und der Perspektive, die uns das verschafft, können wir Kardinal Ratzingers Aussagen über das Konzil hier paraphrasieren. Das wertvollste Erbe der Synode ist nämlich dieser in Kontinuität mit dem bisherigen Lehramt in rechter Weise auslegte Text. Papst Franziskus scheint dies unterstreichen zu wollen, denn der Text geht sehr verschwenderisch mit Zitaten aus den Synodenberichten und aus Texten seiner beiden Vorgänger um: des heiligen Johannes Paul II. und seiner „Familiaris consortio“ und Benedikts XVI. und seinem Lehrschreiben „Deus Caritas“ (unter anderem).

Ein Anreiz: Als das Apostolische Schreiben der Presse vorgestellt wurde, betonte man, die Sprache von Papst Franziskus sei klar, einfach und konkret. Das ziehe ich nicht in Zweifel. Doch fände ich es gut, wenn sich der Leser von ein paar Überlegungen reizen lassen würde, die Etienne Gilson in seinem Werk „Le philosophe et la théologie” anstellt, da er erkannte, dass Philosophen sich selten dazu entschließen konnten, päpstliche Lehrschreiben zu lesen, die ihnen zu schwierig waren. Ich bin überzeugt, dass die von Gilson angemahnte Umsicht weiterhin am Patz ist und dass diese Texte eine sehr aufmerksame, reflexive Lektüre erfordern, um so den Wert jedes Satzes im Gesamtkontext des Schreibens, den Wert einiger Pausen und – wie Gilson es ausdrücken würde – die Präzision einiger Ungenauigkeiten zu erfassen. Obwohl die Schwierigkeit der Lektüre sich aus anderen Gründen ergibt, erweist sich hier folgender Text von Gilson als einschlägig: „Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass diese Texte in einem blumigen Amtslatein voller humanistischer Eleganz geschrieben sind, sondern eher darin, dass die Lehre und ihr Sinn nicht immer leicht zu erfassen sind. Wenn man dann das Problem der Übersetzung angeht, versteht man bei dem Versuch wenigstens am Ende, warum der Stil berechtigt ist. Man kann dieses päpstliche Latein nicht mit Worten ersetzen, die aus irgendeiner großen modernen Literatursprache entstammen; noch viel weniger kann man diese Sätze auseinandernehmen und auf andere Weise zusammenfügen, ohne dabei sofort zu bemerken, dass man bei dieser Operation, ganz gleich, wie viel Mühe man sich gibt, gegenüber dem Original an Kraft verliert, und nicht nur an Kraft, sondern auch an Präzision, was noch nicht das Schlimmste ist, denn die eigentliche Schwierigkeit, die denjenigen, die die Probe aufs Exempel machen, gut bekannt ist, besteht darin, sehr genau das zu beachten, was man, ohne dabei ins Paradoxe zu geraten, die Präzision seiner Ungenauigkeiten nennen könnte – die weise ausgeklügelte Präzision seiner gewollten Ungenauigkeiten. Wie oft meint man doch nach reifer Überlegung, dass man weiß, was das Lehrschreiben in Bezug auf ein ganz bestimmtes Thema aussagen will, doch tut es das nicht genau, und zweifellos gibt es Gründe, um angelangt an bestimmten Übergängen einer weitergehenden Festlegung des Gedankens zu wehren, weil man dafür sorgen möchte, dass man zur Aufnahme möglicher Neuerungen immer offen und bereit bleibt.“ Abschließend bittet Gilson christliche Philosophen darum, nicht nur Theologiekurse zu belegen, sondern auch eine päpstliche Universität zu besuchen, wo man lehrt, die päpstlichen Dokumente zu lesen. Als Rektor eines Päpstlichen Athenäums spreche ich diese Einladung natürlich erneut aus, doch beschränke ich mich etwas genügsamer darauf, Gläubige und in der Pastoral Tätige – an sie ist das Schreiben „Amoris laetitia“ gerichtet – einzuladen, diesen langersehnten Text über eine Frage, die den Lebensnerv vieler Menschen, Familien, der Gesellschaft und der Kirche trifft: „die Liebe in der Familie“, in Ruhe zu lesen und seinen tiefen Sinn zu erfassen.

Pater Jesus Villagrasa LC ist Rektor des Päpstlichen Athenäums Regina Apostolorum in Rom. Ins Deutsche übersetzt wurde der Artikel von Pater Thomas Fox LC aus dem spanischen Originalartikel.

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    Eine Einstiegshilfe von P. Jesus Villagrasa LC zur Lektüre von „Amoris laetitia“ von Papst Franziskus.

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