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Donnerstag, 4. Februar 2021

Warum wir den „Reset“ brauchen

Was „Reset“ mit Bekehrung zu tun hat und warum Dialog so wichtig ist, darüber schreibt P. George Elsbett LC in seinem neuen Artikel zu Themen der Gegenwart.

„The Great Reset“ ist etwas, was wir alle brauchen. Nein, ich meine nicht diesen, dazu komme ich noch. Ich meine den eigenen, Christen nennen diesen auch „Bekehrung“.

Gestern haben alle, die das Stundenbuch (auch Brevier genannt, das offizielle Gebet der Kirche) verwenden, in der Lesehore aus dem Römerbrief 12, 1-20, gelesen. Dort beschreibt Paulus das, was Christen mit dem persönlichen „Reset“ meinen. Es beginnt damit, dass sich im Denken eine radikal neue Sichtweise ergibt (vgl. Röm 12,1-2). Durch den Glauben. Oder besser gesagt: Dort, wo der Glaube wirklich zu greifen beginnt. Nicht, weil christlicher Glaube für den Christen dasselbe bedeutet wie „ich glaube, dass es morgen schneien wird“. Christlicher Glaube ist etwas komplett anderes. Komplett anders, weil dieser eine Teilhabe an Gottes Vision für die Welt ist. Es ist ein Eintreten in seine Sicht der Dinge. Deswegen wird das auch „theologische Tugend“ genannt. Glaube als „Tugend“, weil uns eine innere Neigung nicht nur einmal, sondern ständig dazu anregt, die Welt durch Gott zu betrachten. Mit „theologisch“ (Theos – „Gott“ & Logos – „das Wort, der Sinn“) wird zum Ausdruck gebracht, dass Glaube eine gewisse Teilhabe am Wort Gottes ist, an der Art und Weise, wie Gott sich selbst kennt. Durch dieses Wort ist aber alles geworden, was geworden ist (vgl. Joh 1,3). Auf dieses Wort hin ist alles geschaffen, im Himmel und auf der Erde (vgl. Kol 1,16). Dieses Wort ist das Auge, durch das der Christ die gesamte Wirklichkeit anschaut. Mehr noch. Der Christ würde behaupten, dass man die Welt letztlich NUR durch dieses „Auge“ wirklich verstehen kann. Dass ohne dieses Wort die Welt im wahrsten Sinne „sinnlos“ wäre. Dieses Wort geht in aller Ewigkeit vom Vater hervor, in diesem Wort spricht Gott sich selbst aus. Und Glaube ist gerade die Teilhabe an dieser Selbstkenntnis Gottes. Und dieses „Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh 1,14) In ihm werden wir Söhne und Töchter Gottes (vgl. 1 Joh 1,3), rufen Abba (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6), werden von seinem Geist erfüllt (vgl. Röm 5,5), werden neue Geschöpfe (vgl. 2 Kor 5,17).

„Wandelt Euch und erneuert Euer Denken“

Der Christ sieht genau dasselbe, was der Atheist sieht. Brot. Wein. Einen Menschen aus Fleisch und Blut. Eine Pandemie. Kranke. Tote. Arbeitslose. Einsame. Psychisch extrem Belastete. Wasser. Missbrauch der Freiheit. Einen Berg. Den Schnee. Ein Lächeln im Gesicht. Aber der Christ sucht einen weiteren Zugang zur Wirklichkeit. Natürlich kann er auch Soziologe oder Biologe oder Arzt oder Mathematiker oder Politiker sein und durch diese Linse auf die Wirklichkeit schauen. Aber sein Christsein eröffnet einen weiteren Horizont und eine andere Art von Tiefenblick. Im Letzten weiß er, dass das Realste in dieser Welt eben nicht das ist, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht. Den Logos hinter den Dingen, den tieferen Sinn, das von Gott Kommende und auf ihn Zugehende, den rettenden und erlösenden Willen des Herrn, die Liebe des Vaters und seine Barmherzigkeit, die tiefste Sehnsucht Gottes, dass „alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Nicht, dass das ganz offensichtlich vor mir Stehende – sei es dieser PC, eine Kuh oder eine Krankheit – nicht wirklich wäre. Natürlich ist es das. Aber den Sinn und das Warum von Computern und Kühen und sogar von Krankheiten werde ich im Letzten nur durch die Glaubensperspektive gewinnen, die mir Gott schenkt. „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.“ (Röm 12, 2)

Derzeit beobachte ich sehr wenig Wandel im Denken und sehr viel Angleichung an die Welt (wobei mit der biblischen Kategorie „Welt“ nicht die herrliche, von Gott „gut“ geschaffene gemeint ist, sondern all das, was sich weigert, die gütige Herrschaft Gottes über die Welt anzuerkennen und schon gar nicht sich ihr zu fügen). Und das oft genug mit Tönen, die mit der Liebe und Wahrheit des Evangeliums nur noch sehr peripher zu tun haben. Auf jeden Fall nichts mit „übertrefft euch in gegenseitiger Achtung!“ (Röm 12,10)

Es geht Paulus im Römerbrief um einen Perspektivenwechsel, den wir Glauben nennen und der die Frucht einer Erleuchtung durch den Heiligen Geist ist. Und das sollte der Christ jeden Tag neu demütig erbitten: Herr, „ich glaube; hilf meinem Unglauben“ (Mk 9,24). Hilf mir, mit deinen Augen neu auf mein Leben, auf diese Welt zu schauen! Mit den Augen der Liebe, mit einem barmherzigen, gütigen und helfenden Blick. Hilf mir, wie du sagen zu können: „Was willst du, dass ich dir tue?“ (vgl. Mk 10,51) Und hilf mir, dass ich echt hinhöre, und nicht meinen eigenen Vogel mit deiner Stimme verwechsle!

Alles sofort ändern?

Noch ein Gedanke zum anderen Reset, über den zurzeit in manchen Kreisen viel diskutiert wird. Mir hat jemand gesagt, dass sich das Buch von Klaus Schwab, dem Gründer des World Economic Forum (WEF), und seinem Co-Autor Thierry Malleret so lese wie eine Kampfansage. Nachdem ich das Buch „The Great Reset“ gelesen habe, kann ich aber da nicht mit. Die einen würden Schwab als Kommunisten beschreiben, die anderen als radikalen Kapitalisten. Ich finde, dass weder das eine noch das andere zutrifft. Schwab ist zum Beispiel schon lange wegen seines großen Anliegens, den Stakeholder-Value über den Shareholder-Value zu setzen, bekannt. Das findet auch im „The Great Reset“ wieder Raum. Vieles im Buch bleibt allerdings vage und allgemein. Vorsicht ist beim Themenkomplex „Ungleichheit“ oder „Global Governance“ oder Erneuerung des „Social Contract“ angebracht – da müsste man erst einmal erfahren, wie denn das konkret ausschauen soll.

An vielem, was Klaus Schwab in Bezug auf die Problematik der Ungleichheit der Welt und des Klimaproblems festhält, ist Wahres dran – und er stellt legitime Fragen in den Raum. Ein verantwortungsvoller Kapitalismus ist sicher nicht schlecht. Und doch ein Wort der Warnung: Die Autoren vertreten die Meinung, man müsse handeln, und zwar jetzt, mit radikaleren Lösungen. Ja, die Krise ist sicherlich eine Chance. Aber wenn mit Änderung die umfassende Umwälzung der gesellschaftlichen Struktur wie im Buch vorgeschlagen (auch wenn das nur vage ist oder utopisch erscheint), so braucht es dafür eine grundsätzliche gesellschaftliche Debatte. Schnelle, nicht erprobte Lösungen mit globalen Auswirkungen sind sehr riskant. Ich würde da auf die Bremse treten. Man kann diese Anliegen vorbringen, aber sie dürfen nicht nur von ein paar Eliten hinter verschlossenen Türen entschieden werden.

Gefährlich wird das dann, wenn wegen des „Window of Opportunity“ dafür geworben wird, dass man jetzt rasch handeln müsse, noch bevor dieses „Fenster“ wieder zu sei. Natürlich bringt Covid-19 nicht nur eine globale Krise mit sich, sondern auch Chancen. Aber auf mich wirkt das Ganze etwas alarmistisch. Nach dem Motto: Alles ist so schlecht, wir müssen alles sofort umkrempeln. Oder so eine Chance hatten wir noch nie und wird es nie wieder geben, deswegen müssen wir jetzt alles sofort ändern.

Sicherlich gibt es im internationalen Wirtschaftssystem Faules und vieles, was zu ändern ist. Sicherlich leiden viele unter gesellschaftlich unfassbaren und unentschuldbaren Ungleichheiten. Und doch. Das System, das da sofort geändert werden müsste, hat uns in den letzten 25 Jahren den schnellsten Ausbruch aus der Armut in der Menschheitsgeschichte gebracht. 1820 lebten 94 Prozent der gesamten Weltbevölkerung in äußerster Armut, 1990 waren es 34,8 Prozent, 2015 noch 9,6 Prozent. Gerade in den beiden Ländern mit dem größten Anteil der unter extremer Armut leidenden Menschen, Indien und Nigerien, hat es das schnellste Wachstum aus der Armut unter der benachteiligsten Bevölkerungsschicht gegeben. 2017 konnten jeden Tag fast 140.000 Menschen weltweit aus extremer Armut herausgehoben werden, heute sind es ca. 160.000 täglich. Seit 1990 haben 1.1 Milliarden Menschen die „extreme poverty“ verlassen. Und fast in jedem gesellschaftlichen Bereich geht es uns heute viel besser als in der gesamten Geschichte der Menschheit. Dieser Trend hat in den letzten 100 Jahren zugenommen, in den letzten 25 Jahren sogar enorm. 1900 lag die Lebenserwartung der Weltbevölkerung bei 40 Jahren, heute liegt sie bei 72 Jahren, höher als in irgendeinem Land vor 40 Jahren. Auch für Menschen in Ländern wie Indien und Südkorea, die vor 100 Jahren eine Lebenserwartung von 23 Jahren hatten, hat sich diese bis heute verdreifacht oder sogar vervierfacht. Ähnliche Tendenzen sieht man in manchen Bereichen des Klimawandels. Ein Beispiel: Der Gesamtschwund bei den Wäldern geht weltweit dank der Wiederaufforstungen Richtung null, die Waldfläche wird bald sogar wieder zunehmen. Was will ich mit alledem sagen? Es ist gefährlich und unverantwortlich, ein System, welches ein so erstaunliches Wachstum in vielerlei Hinsicht und innerhalb bemerkenswert kurzer Zeit gebracht hat, grundsätzlich auf dem Kopf stellen zu wollen – und das ohne Erfahrungswerte, ohne dargebotene Optionen, was sich dadurch verbessern oder verschlechtern würde, und ohne darüber eine breit aufgestellte gesellschaftliche Debatte zu führen.

Der Glaube baut Brücken anstatt sie zu sprengen

Und hier möchte ich eine Brücke zu unserem persönlichen Leben schlagen. Ja, der Glaube bringt sehr wohl einen „Reset“ im Denken und im Tun. Und doch. In einem Punkt hilft uns der Glaube sehr: im Differenzieren. Der Glaube schenkt uns eine gesunde Dosis an Realismus. Der Glaube folgt dem Meister, indem er nicht wie die selbstgerechten Pharisäer die Menschheit in „Gut“ und „Böse“ unterteilt, da er weiß, dass die Grenze zwischen dem „Guten“ und „Bösen“ in der Mitte des eigenen Herzens verläuft. Der Gläubige weiß, dass er selbst erlösungsbedürftig ist, dass es in ihm Gutes gibt, aber auch genügend Böses, das sehr wohl der Reinigung bedarf. Der Glaube baut Brücken anstatt sie zu sprengen. Der Glaube führt einen dazu, alles was gut und edel und wahr und schön im anderen ist, zu bejahen, ja den anderen selbst erst mal zu bejahen. Das ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass man das, was nicht zu bejahen ist, überhaupt erkennen und sich das herauskristallisieren kann. Der Glaube lehrt ja, die Sünde zu hassen, aber eben auch den Sünder zu lieben. Und nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Denn man weiß sich zugleich selbst als Sünder, der das in jeder Messe zum Beginn betont: „Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld … darum bitte ich … euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn.“

Wir haben die Fähigkeit zu diskutieren verloren. Wir schreien nur noch. Es geht nicht mehr um die Wahrheit, sondern darum, wer am lautesten ist. Es geht gar nicht mehr darum, den anderen zu lieben und ihm die Schönheit des Glaubens näherzubringen, ihm den Herrn näherzubringen, sondern darum, ihn möglichst schnell und möglichst lange in der von mir für ihn vorbereiteten Hölle schmoren zu lassen. Vielleicht haben wir auch deswegen unseren missionarischen Geist ausgetrieben. Ich will möglichst einfach so weiterleben können, wie ich jetzt lebe. Die anderen, besonders die, die anders denken, sind mir dabei ein Problem, deswegen halte ich sie mir möglichst weit vom Leib oder beschimpfe sie vom Bett aus, via Smartphone auf den Plattformen der sozialen Medien.

Herr, wir bedürfen der Umkehr. Vielleicht gerade auch als Kirche. Vielleicht gerade auch jetzt. Jetzt ist nicht die Zeit dafür, um uns selbst zu kreisen, noch weniger dafür, um uns hinter unseren ideologischen Schutzmauern und Burgen zu verbarrikadieren. Lehre uns neu zu glauben! Lehre uns neu zu lieben! Lehre uns neu, unseren Auftrag in dieser Welt anzunehmen!

Gottes Segen,

Euer P. George Elsbett LC

 

(P. George Elsbett LC ist Leiter des Zentrum Johannes Paul II. des Regnum Christi in Wien)

 

 

 

Additional Info

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    Was „Reset“ mit Bekehrung zu tun hat und warum Dialog so wichtig ist, darüber schreibt P. George Elsbett LC in seinem neuen Artikel zu Themen der Gegenwart.

  • Kategorie News : Aktuelles aus anderen Bereichen
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  • Druck / PDF: Ja
  • Region: Deutschland, Österreich

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